17
Jo fühlte sich, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als einen Rennstall zu leiten. Die australische Rennvereinigung hatte ihr die Lizenz als Stallmeisterin erteilt, und sämtliche Mitarbeiter der Kingsford Lodge respektierten ihre Gelassenheit, ihr Selbstbewusstsein und ihren Fleiß. Niemand nahm ihr übel, dass sie sich in Bereiche vorwagte, die eigentlich tabu für Frauen waren.
Jo hatte alle Hände voll zu tun und hetzte zwischen den Pferden, deren Besitzern, dem Krankenhaus und ihrer Mutter, die sich Hilfe suchend an sie klammerte wie ein verängstigtes Kind, hin und her. Simons Stimme am Telefon und seine häufigen Briefe waren für sie die größten Lichtblicke jener Wochen.
Drei Wochen nach Jos Rückkehr zeigte Charlie zur allgemeinen Erleichterung die ersten Anzeichen dafür, dass er aus dem Koma erwachen würde. Die Lebensgefahr schien gebannt. Anfangs geschah dies so unmerklich, dass sie alle zunächst an Einbildung glaubten, aber als die Ärzte endlich das Beatmungsgerät abschalten konnten und Charlie wieder ohne fremde Hilfe atmete, fielen Jo und Nina einander gerührt im Krankenhauswartezimmer in die Arme. Bertie, der nicht zu Gefühlsausbrüchen neigte, umarmte Mutter und Schwester rasch und begann dann, Jo zu hänseln, um seine Erleichterung zu verbergen. Zum ersten Mal seit dem Unglück schlief Nina wieder acht Stunden durch.
Einige Tage später jedoch mussten sie den nächsten Schicksalsschlag verkraften. Die Ärzte teilten ihnen nach einer Reihe von Untersuchungen mit, dass Charlie während des Unfalls einen Schlaganfall erlitten habe, gelähmt sei und nicht mehr sprechen könne. Das Ausmaß der Hirnschädigung und die endgültigen Folgen stünden noch nicht fest. Nina und Jo waren wie vom Donner gerührt, und Bertie flüchtete sich auf die Rennbahn, wo er eine ziemlich hohe Summe verlor.
Jo musste gegen ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit ankämpfen, als sie eines sonnigen Nachmittags neben ihrem Vater saß. Gestützt von Kissen, lag er in seinem Bett in der Pflegeabteilung und starrte ausdruckslos und ohne sich zu rühren ins Leere, während Jo verbissen fröhlich auf ihn einredete. Auf ihren Rat hin hatte Nina sich entschlossen, zu einer Sitzung ihrer Wohltätigkeitsorganisation zu gehen.
»Von Outsider habe ich dir noch gar nicht erzählt, Dad. Er ist das mutigste Pferd, dem ich je begegnet bin«, meinte Jo und streichelte Charlies Hand.
Zumindest waren seine Augen inzwischen geöffnet. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr Vater sie hören konnte, geschweige denn verstehen, was sie sagte. Dennoch sprach sie mit ihm und schilderte ihm ihre Beziehung zu diesem Pferd. Sie beschrieb, wie sie Outsiders Schulter heilte und sich dabei an alles erinnerte, was sie von ihm, Charlie, als Kind gelernt hatte. Wie aufgeregt war sie gewesen, als sie erfuhr, dass sie Outsider in Ascot betreuen durfte.
»Es war einfach wundervoll. Ich hörte, wie die Zuschauer Outsider anfeuerten, als er über die Ziellinie galoppierte, und glaubte, ich müsste platzen vor Stolz«, fuhr sie mit kräftiger Stimme fort und ließ das ganze Rennen Revue passieren. »›Sicher empfindet Dad genauso, und darauf kommt es an‹, dachte ich. ›Man liebt seine Pferde, arbeitet mit ihnen und irgendwann erbringen sie eine großartige Leistung.‹«
Sie kam sich ein wenig albern vor, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und wünschte sich nichts sehnlicher als eine Reaktion ihres Vaters. Seine Augen waren wieder geschlossen. Sie musterte ihn und fragte sich, ob er wohl je erfahren würde, wie sehr sie ihn bewunderte. Da quollen auf einmal kleine Tropfen aus seinen Augenwinkeln hervor und kullerten ihm langsam die Wangen hinunter. Jo erschrak und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann überkam sie wie ein Blitzschlag die Erkenntnis: Er hatte jedes Wort verstanden.
»Dad«, flüsterte sie bewegt. Sie beugte sich vor und wischte ihm ganz vorsichtig die Tränen von den Wangen. »Dad, ich liebe dich. Ich liebe dich über alles. Du wirst wieder gesund. Mum geht es gut, und sie liebt dich auch. Es dauert nicht mehr lange, dann wirst du aus diesem Krankenhaus herausspazieren.« Fest umfasste sie seine Hand und erzählte ihm von Simon und davon, dass sie heiraten wollten, sobald es Charlie wieder besser ging. Am nächsten Tag kaufte sie ihrem Vater einen neuen extravaganten Hut und legte ihn ihm auf den Schoß. Wieder weinte er, und auch Jo vergoss Tränen. Diesmal aber waren es Freudentränen, die ihr die Wangen hinunterliefen.
Nach diesem Tag änderte sich das Leben im Hause Kingsford dramatisch. Aufgemuntert von dem Wissen, dass ihr Vater sie verstehen konnte, auch wenn er nicht in der Lage war zu antworten, empfand Jo die Besuche nicht mehr als so bedrückend. Sie nutzte sie, um ihm jede Begebenheit in den Ställen haarklein zu berichten. Wenn sie in sein Krankenzimmer kam, konnte sie jedes Mal eine kleine Veränderung zum Besseren feststellen, und in seinen Augen stand ein erwartungsvoller Blick, der zuvor nicht da gewesen war. Nach jedem Besuch fühlte sie sich besser.
»Archie hat am Samstag in Rosehill drei Rennen gewonnen, und nächste Woche reitet er Titian Girl bei den Hindernisrennen in Villiers. Das sollte eigentlich klappen. Die Bahn war heute Morgen ziemlich schlammig, aber die Stute hat sich wacker geschlagen«, meldete sie Charlie erfreut an einem Tag Mitte Dezember.
Jo ordnete einen riesigen Blumenstrauß in einer Krankenhausvase und stellte diese auf seinen Nachttisch. Darum herum drapierte sie die Schleifen, die Archie gewonnen hatte.
»Ich weiß nicht, was ich ohne Archie machen würde. Er ist ein prima Jockey, und ich habe viel von ihm gelernt.«
Seit Jos Rückkehr in die Ställe wurde sie von Archie, der seinen unverkennbar schottischen Akzent pflegte, rückhaltlos unterstützt. Morgens begleitete er sie stets zur Arbeit auf die Rennbahn, um sie zu beraten, empfahl ihr andere Jockeys und nahm ihr auch sonst viele der anfallenden Arbeiten ab, um ihr die Eingewöhnung zu erleichtern. Seine Treue zu Charlie beeindruckte sie. Anders als viele Jockeys, denen es nur darauf ankam, das beste Pferd zu reiten, entschied sich Archie, wenn zwei Tiere zur Wahl standen, selbst bei geringeren Siegeschancen stets für das aus der Kingsford Lodge. Ob das zu Gerüchten über seine Fähigkeiten als Jockey führte, kümmerte ihn nicht. Jo war ihm unbeschreiblich dankbar dafür, da er auf diese Weise die Abwanderung weiterer Pferdebesitzer verhinderte.
Auch hatte es sich als ausgesprochen weise Entscheidung entpuppt, Pete zu ihrem Assistenten zu machen. Trotz seiner Jugend konnte er gut mit Menschen umgehen, und es gelang ihm, die Pferdebesitzer zu beruhigen, die wissen wollten, wann Charlie wieder einsatzbereit sein würde. Es wurmte Jo zwar, dass Petes Wort häufig mehr Gewicht hatte als ihres, nur weil sie eine Frau war, doch sie ließ sich davon nicht unterkriegen, da es ihr vor allem auf einen reibungslosen Ablauf ankam. Außerdem hatte Pete viele Freunde, die ihm alles zutrugen, was sich in der Welt des Rennsports tat.
»Ich kann kaum glauben, dass alles so prima klappt«, sagte Jo bei einem ihrer regelmäßigen Telefonate aufgeregt zu Simon. »Aber ich vermisse dich. Ich wünschte, ich könnte durch die Telefonleitung kriechen und dir in die Arme fallen.«
Dann erzählte sie ihm, Charlies Neurochirurg habe Nina vorsichtig Hoffnungen gemacht. Obwohl seine rechte Körperhälfte sich wohl nie wieder vollständig erholen würde, könnte er mit der richtigen Physiotherapie und harter Arbeit den Großteil seiner Beweglichkeit zurückgewinnen.
»Also könnte ich Ostern wieder in England sein, wenn nichts dazwischenkommt«, meinte sie zuversichtlich.
Simon berichtete, Neddy sei wieder von seiner Bronchitis genesen, und nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, legte Jo widerstrebend auf. Auf Dauer waren Ferngespräche einfach keine Lösung, denn es gab leider zu viele Dinge, die man am Telefon zu erzählen vergaß.
Charlie war zwar noch ziemlich gebrechlich, durfte die Weihnachtsfeiertage jedoch zu Hause verbringen, was trotz der allgemeinen Freude eine ernüchternde Erfahrung war. Obwohl Jo Simon sehr vermisste, gaben sich alle Mühe, das Fest zu etwas Besonderem zu machen, auch wenn Charlie noch immer nicht sprechen konnte. Nina war mit der Situation völlig überfordert, kämpfte mit den Tränen und stürzte rasch drei Gläser Wein hinunter, sodass sie bei Charlies Ankunft bereits leicht beschwipst war.
Nachdem Bertie und ein Pfleger Charlie ins Haus gebracht hatten, wurde er in einer kühlen Ecke in einen Sessel unter den Ventilator gesetzt. Elaine, die Charlie einige Male im Krankenhaus besucht hatte, war mit Wayne aus Dublin Park angereist, und Jack und Joan Ellis gesellten sich zum Weihnachtsessen zu ihnen. Sie ließen Knallbonbons platzen, setzten sich bunte Papierhüte auf, rissen alberne Witze und versuchten so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung.
Kurz bevor der Weihnachtspudding aufgetragen wurde – Jo hatte gerade eine besonders komische Begebenheit aus dem Stall erzählt –, schlug Charlie mit dem Löffel auf den Tisch, deutete zittrig damit auf Jo und murmelte etwas, das wie »Geh-geh-weg« klang. Betretenes Schweigen entstand, und Jo errötete heftig. Ihr Vater hatte ihr nach all dieser Zeit doch sicher verziehen. Sie sprang auf und holte Bleistift und Papier, damit er aufschreiben konnte, was er zu sagen hatte, aber er brachte nur ein paar Schlangenlinien zustande.
Schließlich ließ er den Stift fallen, starrte Jo eindringlich an und wiederholte einige Male dieselbe unverständliche Silbenfolge. Nina tätschelte ihrem Mann aufgeregt die Hand, nahm ihm den Löffel ab und lächelte Jo gezwungen zu. Charlie schien sich wieder zu beruhigen, und die anderen kehrten zu ihrem Gespräch zurück. Doch während der restlichen Mahlzeit herrschte eine Anspannung, die sich nicht mehr legte.
»Vielleicht ist unser alter Herr verrückt geworden«, flüsterte Bertie Jo später auf der Veranda zu.
Entrüstet schüttelte Jo den Kopf.
»Ich denke, er will uns etwas sagen. Wir sollten uns freuen, dass er überhaupt einen Ton herausgebracht hat, auch wenn man nichts versteht«, erwiderte sie mit Nachdruck und bückte sich zu Sam hinunter, der hechelnd in der Hitze lag.
Der Hund hatte sich sehr über ihre Rückkehr gefreut und wedelte heftig mit dem Schwanz, als sie ihm den Bauch kraulte. Doch Jo konnte nicht verhindern, dass sie sich Sorgen machte. Da läutete das Telefon. Simon war am Apparat.
»Fröhliche Weihnachten, mein Liebling. Hat mein Geschenk dir gefallen?« Er hatte ihr einen wunderschönen Bildband über Norfolk geschenkt und die Seite über Burnham Overy Staithe mit einem Lesezeichen eingemerkt.
»Ich war ganz begeistert«, erwiderte Jo und fühlte sich beim Klang seiner Stimme viel besser. »Auch dir fröhliche Weihnachten, mein Schatz. Ich vermisse dich wahnsinnig. Ich weiß, ich habe versprochen, zu Ostern wieder in England zu sein, aber ich fürchte, da war ich zu optimistisch.«
»Zermartere dir nicht das Hirn deswegen, Jo. Schließlich haben wir noch den Rest unseres Lebens vor uns. Was machen da ein paar Monate?«, antwortete Simon vergnügt, und Jo fiel ein gewaltiger Stein vom Herzen.
Während Simon ihr von Weihnachten in England und von seiner Familie erzählte, hellte sich ihre Stimmung auf und ihre Zuversicht wuchs, dass alles ein gutes Ende nehmen würde.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie noch einmal.
Nachdem sie aufgelegt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Elaine. »Du wirst Simon bestimmt sympathisch finden, da bin ich ganz sicher, Gran«, sagte sie. »Er ist geduldig und verständnisvoll, und er fehlt mir so sehr.«
Elaine drückte Jo fest an sich.
»Du hast einen ganz besonderen Mann verdient«, erwiderte sie fröhlich. »Denn du bist ein ganz besonderes und mutiges Mädchen. Aber du musst dir ein wenig Ruhe gönnen, damit du dich nicht überforderst.«
»Ja, Gran«, entgegnete Jo lächelnd und trollte sich.
Nachdenklich ging Elaine in die Küche, um sich eine Tasse Tee einzuschenken. Sie machte sich Sorgen um Jo. Ihrer Ansicht nach hätte Bertie mehr Verantwortung in den Ställen übernehmen sollen, anstatt sich mit seinen reichen Freunden herumzutreiben. Zu viel Verantwortung lastete auf den Schultern des armen Mädchens, und obwohl Nina sich inzwischen wieder beruhigt hatte, war sie für Jo nicht unbedingt eine Unterstützung. Elaine runzelte die Stirn und wünschte sich, sie hätte mehr tun können. Offenbar trat Bertie zunehmend in die Fußstapfen seines Onkels Wayne, doch wenn sie Nina darauf ansprach, bekam diese nur wieder einen hysterischen Weinkrampf, und damit war Jo ganz und gar nicht gedient.
Eines sonnigen Nachmittags im März – es war einer von Jos seltenen freien Tagen – schlenderte sie mit ihrer Freundin Dianne Gibbs die Strandpromenade von Manly entlang. Die beiden alten Freundinnen aus dem Ponyclub hatten es vor einigen Wochen endlich geschafft, sich zu treffen. Dianne machte eine Ausbildung zur Hotelfachfrau in einem der großen neuen Hotels, die kürzlich am Strand von Manly eröffnet hatten. Die beiden jungen Frauen erzählten einander, was sie in den letzten drei Jahren alles getrieben hatten.
Jo stellte fest, dass sie schon lange nicht mehr so gelacht hatte wie heute. Es war wunderschön, einmal nicht an die Probleme des Alltags denken zu müssen. Das blaue Wasser glitzerte in der Sonne, und die Wellen brachen sich sanft an dem hellgelben Strand. Dünner Schaum säumte den Sand an der Wasserlinie. An einem Tag wie diesem erschien es Jo fast möglich, Simon zu heiraten und Australien zu verlassen. Sie holte das Foto heraus, das er ihr geschickt hatte. Es zeigte seine neueste Entdeckung, ein verfallenes altes Pfarrhaus am Stadtrand von Norwich. Das Haus war im typischen Norfolkstil aus rotem Backstein und Flintstein erbaut und besaß einen verwilderten Garten. Jo sah auf den ersten Blick, was Simon an diesem Haus begeistert hatte. Wenn man es gründlich renovierte und viel Mühe und Liebe hineinsteckte, würde es ein Schmuckstück werden. Das Beste war, dass es hinter dem Haus genug Platz für Ställe gab.
Die beiden jungen Frauen erreichten das Hotel, in dem Dianne arbeitete. Sie umarmten einander zum Abschied und verabredeten sich für Anfang der kommenden Woche. Jo schlenderte zurück zum Fährhafen und dachte dabei über ihre Freundin nach.
Dianne war schon immer sehr praktisch veranlagt und ehrgeizig und stellte Jo einige forschende Fragen über ihre Zukunftspläne, die sie nicht hatte beantworten können. Nicht bereit, sich den schönen Tag verderben zu lassen, beschloss Jo spontan, mit der Fähre zum Circular Quay, dem Hauptfähranleger im Zentrum von Sydney, und wieder zurück zu fahren.
Vergnügt überquerte sie die Gangway der Mary Jane, ging zum Bug des Schiffes und lehnte sich über die Reling, um das aufgewühlte Wasser zu betrachten. Die Sonne brannte auf sie hinunter, der Wind zauste ihr Haar, und die Gischt wehte ihr um die Nase, als das Boot ablegte. Jo fand diese Pause vom Alltag sehr erfrischend. Es waren nur wenige Passagiere an Bord, sodass sie ungestört die Ellenbogen auf die Reling stützen und die Boote aller Formen und Größen beobachten konnte, die gemächlich durch den belebten Hafen segelten. Zwei Windsurfer glitten über die Wellen, und in der Ferne tuckerte ein riesiger Tanker, begleitet von einem Lotsenschiff, langsam auf die berühmten Felsen der Sydney Heads und das offene Meer zu. Es war so schön, die Eindrücke in Ruhe auf sich wirken zu lassen und seinen Gedanken nachzuhängen.
In den Ställen hatte sich ein reibungsloser Ablauf eingespielt. Pete und Archie schickte der Himmel, sagte sich Jo gut gelaunt.
Obwohl sie wegen der von Hawk verschuldeten Abwanderungen und der Gerüchte, dass Charlie nicht mehr ganz richtig im Kopf war, weniger Pferde auszubilden hatten als früher, gewannen ihre verbliebenen Schützlinge nahezu jedes Rennen. Allerdings war das Verbreiten übler Nachrede nicht das einzige Problem, das auf Hawks Konto ging. Weil Hawk immer seltener aufgefordert worden war, in einem Rennen zu starten, hatte er Charlies Angebot angenommen, als Zeitnehmer zu fungieren und die Zeit der Pferde bei der Bahnarbeit mitzustoppen. Da Jo ihm gekündigt hatte, musste sie nun einen Ersatzmann für ihn finden. Eigentlich war es ihr als nicht allzu schwierig vorgekommen, nur dazustehen, die Zeit der von ihr aufgerufenen Pferde zu stoppen und die Ergebnisse in eine Liste einzutragen. Doch wie Jo bald feststellen musste, war es gar nicht so einfach, einen zuverlässigen Zeitnehmer aufzutreiben. Sie hatte es mit einigen Bewerbern versucht, die sich als unfähig und überfordert erwiesen hatten, und in ihrer Verzweiflung sogar einige Male Gloria um ihre Mitarbeit gebeten.
»Dafür findet sich bestimmt auch eine Lösung«, sagte sie sich mit mehr Zuversicht, als sie eigentlich empfand, und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
Sie wich einer lärmenden Horde von Schulkindern auf einem Ausflug aus, die sich alle am Bug drängten. Plötzlich fiel ihr Blick auf eine vertraute Gestalt. Zunächst nicht sicher, ob sie sich geirrt hatte, näherte sie sich dem alten Mann, und im nächsten Moment breitete sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
»Winks«, jubelte sie und fiel ihm um den Hals, bevor er wusste, wie ihm geschah.
Vor Schreck ließ er seine Papiertüte mit belegten Broten fallen. Jo fing sie rasch auf, bevor sie unter die Füße der tobenden Schulkinder gerieten, und legte sie ihm wieder auf den Schoß. Winks war alt geworden, sein Gesicht faltig, seine Hände waren knotig und zitterten. Doch seine Augen funkelten wach wie zu seinen besten Zeiten.
»Jo! Heiliger Strohsack! Ich hätte nicht gedacht, dass wir zwei uns noch einmal wiedersehen«, rief er strahlend.
»Man muss immer aufpassen, wen man auf einer Fähre so alles trifft«, witzelte Jo. »Wie geht es dir?«
Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, als sie sich an ihre letzte Begegnung und an ihr schlechtes Gewissen erinnerte, weil er ihretwegen seine Stelle verloren hatte. Außerdem wurde ihr klar, dass sie ihn noch immer vermisste.
»Wirklich ausgezeichnet«, erwiderte Winks zögernd. Seine hellblauen Augen blickten traurig. »Das mit deinem Vater tut mir leid. Er war zwar ein Mensch, der keine Fehler duldete, aber ein ausgezeichneter Trainer. Wie ich höre, schlägst du dich auch recht wacker, meine Kleine, obwohl du ein Mädchen bist«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.
Er nahm die Schirmmütze ab, kratzte sich den kahlen Schädel, und setzte die Mütze wieder auf.
»Es wird allmählich. Dads Zustand bessert sich, und den Pferden ist mein Geschlecht offenbar gleichgültig«, entgegnete Jo schmunzelnd, womit sie die Worte wiedergab, die sie selbst so oft von dem alten Mann gehört hatte.
Während die Fähre weiter in Richtung Circular Quay tuckerte, unterhielten sie sich. Winks berichtete, er habe stundenweise als Gärtner und Mädchen für alles gearbeitet. Heute sei er unterwegs zu einem Treffen mit einem Freund, der ihm eine Stelle als Reinigungskraft auf einer Rennbahn in Aussicht gestellt habe.
»Die Pferde lassen mich einfach nicht los«, kicherte er.
Jo, die wusste, wie stolz Winks war, wandte sich ab, damit er ihr Mitleid nicht sah. Dabei fragte sie sich, wie sie ihren Fehler von damals wiedergutmachen konnte. Als ihr die Lösung einfiel, hätte sie beinahe laut losgelacht, so sehr lag diese auf der Hand.
»Winks, hättest du nicht Lust, bei mir als Zeitnehmer anzufangen?«, meinte sie aufgeregt.
Die Fähre drosselte bereits das Tempo, sie befanden sich kurz vor dem Anlegesteg. Winks machte Anstalten auszusteigen.
»Du kannst doch sicher keinen Tattergreis wie mich gebrauchen«, sagte er leise. Jo packte ihn am Arm und wiederholte, diesmal eindringlicher, ihr Angebot.
»Ich bin verzweifelt, Winks. Mit einem Dutzend Bewerbern habe ich es bereits versucht, doch ganz gleich, ob männlich oder weiblich, es klappt einfach nicht. Entweder sind sie geistig überfordert, kommen zu spät oder erscheinen überhaupt nicht zum Dienst. Bei dir brauche ich mir keine Sorgen zu machen, du kennst das Geschäft. Ich hätte dich schon früher gefragt, aber ich wusste nicht, wo ich dich finden sollte. Bitte, Winks, ich brauche dich.«
Die Fähre näherte sich dem Anleger. Ein Fährbediensteter warf das Tau aus und klappte die Gangway aus. Winks machte einen Schritt Richtung Ausgang und ließ sich dann auf die nächste Sitzbank fallen.
»Nun, vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.« Er hielt inne. »Aber was ist mit deinem Dad? Glaubst du, dass der einen alten Narren wie mich wieder nimmt?«
Jo klatschte freudig in die Hände und fiel ihm um den Hals.
»Darauf kannst du Gift nehmen. Ich tue das nicht aus Mitleid, sondern brauche wirklich deine Hilfe. Also, abgemacht?«
»Abgemacht«, entgegnete Winks und wirkte mit einem Mal zehn Jahre jünger. Auf dem Rückweg nach Manly erzählte er angeregt von den alten Zeiten in der Kingsford Lodge. Einige der Geschichten kannte Jo bereits, andere waren ihr neu, und sie war überglücklich. Irgendwie würde sie das Dad schon beibringen. Und wenn es zum Erfolg beitrug, würde er seinen Stolz eben hinunterschlucken müssen.
Jo war außer sich vor Freude, Winks wiedergefunden zu haben. Und er selbst konnte sein Glück über die Rückkehr in die Kingsford Lodge kaum fassen. So hatten die beiden Gelegenheit, an ihre alte Freundschaft anzuknüpfen, und außerdem war Winks absolut zuverlässig. Er zeichnete die Zeiten der Pferde genau auf und verpasste nie die Bahnarbeit, ganz gleich, wie das Wetter auch sein mochte. Dank der aufeinander eingeschworenen Mannschaft – Archie, Pete und Winks – klappte der Alltag in den Ställen reibungslos.
Charlie erholte sich langsam und war inzwischen in eine Reha-Einrichtung verlegt worden. Allerdings war er noch immer rechtsseitig gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt und gab nichts weiter von sich als die merkwürdige Silbenfolge, die niemand verstand.
»Nimm jeden Tag, wie er eben kommt, Mum«, meinte Jo, als sie beide stolz neben einem braunschimmernden Dreijährigen bei der Siegerehrung standen. Archie hielt die glänzende Plakette hoch über den Kopf. Es war sein dritter Sieg in Folge.
Am selben Abend rief Simon an und verkündete, er werde im September für einen Monat zu Besuch kommen.
»Bis dahin sind es nur sechs Wochen«, jubelte Jo.
»Also werden für den Tommy und mein Schwesterherz bald die Hochzeitsglocken läuten«, meinte Bertie, den Mund voller Erdbeer-Käse-Kuchen, als Jo an den Tisch zurückkehrte.
»Nenn ihn nicht Tommy!«, schimpfte Jo und bedachte ihren Bruder mit einem finsteren Blick.
Nina war plötzlich sehr mit dem Aufschneiden des Kuchens beschäftigt.
»Zum Teufel mit dir, Bertie«, knurrte Jo leise.
Ihr Bruder ging ihr zunehmend auf die Nerven. Außerdem hatte er sich in letzter Zeit angewöhnt, häufiger zum Essen vorbeizukommen. Und in der vergangenen Woche hatte sie ihre Mutter dabei ertappt, wie sie ihm zusätzlich zu seinem monatlichen Scheck Geld zusteckte. Ärgerlich hatte Jo ihrem Bruder vorgeschlagen, sich wie seine Kommilitonen einen Studentenjob zu suchen, anstatt seinen Eltern auf der Tasche zu liegen. Allerdings hatte sie nicht mit der abwehrenden Reaktion ihrer Mutter gerechnet. Das Gespräch hatte sich rasch zu einem heftigen Streit hochgeschaukelt, und anschließend hatte Jo sich zum ersten Mal seit dem Unfall schuldig gefühlt, weil sie ihre Mutter verärgert hatte. Doch ihrer Wut auf Bertie tat das keinen Abbruch.
»Warum fliegst du nicht nach Hawaii und triffst dich auf halber Strecke mit dem jungen Mann, damit ihr ein wenig Urlaub zusammen machen könnt?«, meinte Elaine, die für einige Tage zu Besuch war, in dem Versuch, die Wogen zu glätten.
Bei ihrer gestrigen Ankunft in Sydney hatte sie erschrocken festgestellt, wie erschöpft Jo wirkte. Das Mädchen brauchte dringend Abstand.
»Wie heißen die Freunde von dir und Charlie, die eine Ferienanlage auf den Inseln besitzen, Nina? Sicher werden sie Jo und Simon gern für ein paar Nächte bei sich aufnehmen, meinst du nicht? So wüssten wir, dass du in guten Händen bist, und ihr könntet gemeinsam ausspannen«, sagte sie, an ihre Enkelin gewandt.
Jo lächelte ihr zu.
»Connie und Will«, erwiderte Nina mit zweifelnder Miene.
Jo blickte zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter hin und her.
»Los, ruf ihn an und frage ihn, ob er dazu Lust hätte. Den Rest planen wir später«, befahl Elaine und scheuchte Jo hinaus.
Jo ließ sich das nicht zweimal sagen.
»Und du brauchst nicht so schockiert zu schauen, Nina. Das Mädchen steht schon lange auf eigenen Füßen. Alles, was dort geschehen kann, hat sie vermutlich bereits hinter sich. Außerdem sind die beiden verlobt. Also hör auf, dir Gedanken zu machen.«
»Er findet die Idee prima. Ich habe gesagt, ich melde mich, sobald die Einzelheiten geklärt sind«, verkündete Jo. Sie kam ins Zimmer gehüpft und drückte ihrer Großmutter einen dicken Kuss auf die Wange.